Filmkritik von Karsten Kastelan: mir fehlt nichts

Animationsfilme brechen manchmal Tabus, aber selten die Regeln des eigenen Genres. Beides gelingt Petra Lottje mit „mir fehlt nichts“ einem rührenden, schockierenden und gewagten 13minütigen Kurzfilm, der an zwei Punkten auch gefilmte Bilder einbettet.
Alles beginnt mit einer Idylle. Auf einem kleinen Bauernhof füttert eine junge Frau ein Huhn, während sie ihr Baby zärtlich im Arm hält. Ihr Mann geht auf dem Feld seiner schweißtreibenden, aber erfüllenden Arbeit nach. Als er nach Hause kommt, küsst er seine Frau und streichelt dem Baby über den Kopf. Am Horizont fliegt eine kleine Propellermaschine entlang.
Wobei wir auch schon beim Ende der Idylle wären, da es sich hier um einen Kriegsflieger handelt. Bomben fallen und plötzlich stehen Frau und Baby allein und nackt vor einer dunklen Kulisse da, die nur gelegentlich durch Explosionen erhellt wird. Die melodische Akkordeonmusik des Anfangs ist dem Stakkato von Maschinengewehrsalven gewichen.
Entsetzt läuft die Frau zum Leinwandrand und zieht schwarze Vorhänge vor die Schreckenskulisse, um die Bilder und Töne des Krieges einzudämmen. Was sie damit aber nicht vor sich verbergen kann, ist die Erinnerung. Und so nimmt ein Schicksal seinen Lauf, das über Generationen hinweg Bestand haben wird.
Lottje bedient sich hier eines äußerst einfachen, aber sehr kunstvollen Animationsstils, denn obwohl jeder Frame aufwendig von Hand gezeichnet wurde, haben ihre menschlichen Figuren keine Gesichter – was aber nicht heißt, dass sie ihnen nicht andere Möglichkeiten gibt, Emotion zu zeigen. Die alternde, aber auch in zunehmenden Maße leidende Mutter bekommt Falten. Ihre Brüste fangen an, zu sinken und ihre Körperhaltung drückt zunehmende Einsamkeit aus. Das Baby wächst zu einem jungen Mann heran, der zu lang an der Brust der einsamen Mutter nuckelt, die Muttermilch dann aber durch Alkohol ersetzt und bald eine Frau findet, die als das dargestellt wird, was er in ihr sieht: eine Ansammlung von wohl proportionierten Körperteilen ohne Seele.
Ein weiteres dramatisches und für manche Zuschauer sicher auch verstörendes Stilmittel, ist der Einsatz von Körperflüssigkeiten, wie Muttermilch, Schweiß, Blut und Sperma, mit denen Lottje die dialoglose Geschichte erzählt und uns Dinge erahnen lässt, die in Abwesenheit einer expliziten Darstellung noch verstörender wirken – weil das, was wir uns vorstellen müssen, jede denkbare grafische Darstellung übertrifft.
All dies geschieht auf subtile Art und Weise – ein paar Tropfen, die auf die vom Krieg geschändete Erde fallen; wie auch die Darstellung einer Erektion, die nicht mehr als die leichte Bewegung eines kleinen, harmlos aussehenden Penis ist. Aber wir wissen, was gemeint ist – insbesondere, da der Sohn und seine selbstverliebte Frau inzwischen ein kleines Kind bekommen haben. Eine Tochter, deren Schicksal die größte Tragödie des Films darstellt.
All dies ist schwer mitanzusehen, aber der Film schafft es trotzdem, auch in diesem Horrorszenario noch rührende Momente unterzubringen: in Gestalt des Huhns aus dem idyllischen Anfang, das plötzlich hinter dem Vorhang hervorschaut und dem Mädchen in einem kritischen Moment zumindest tröstend beistehen kann. Gerade diese kleinen Lichtblicke zerreißen einem das Herz. Weil wir wissen, dass die Harmonie nicht andauern wird.
Es bleibt noch zu erwähnen, dass „mir fehlt nichts“ zwei Stilbrüche hat, die Animationspuristen auf die Palme treiben dürften, im Kontext des Films aber durchaus Sinn machen – im zweiten Fall ihn sogar unglaublich bereichern. Ersterer ist, dass der Flieger und die Kriegsszenerie des Anfangs für kurze Zeit durch schwarzweißes Wochenschau-Material dargestellt werden. Zweitens verwandelt sich das inzwischen zur Frau gealterte Mädchen in einer geschickten Kranfahrtsequenz in eine Schauspielerin aus Fleisch und Blut, die einen letzten Blick auf das werfen darf, was sie hätte sein können. Ein glückliches Kind, dem der Horror eines längst vergangenen Krieges, nicht alles erdenkbare Glück geraubt und das Leben zerstört hat.
„mir fehlt nichts“ ist ein ungewöhnlicher Film, der eine viel zu häufig geschehene Leidensgeschichte schnörkellos und ohne Klischees erzählt – und mit seiner emotionalen Wucht und ungewöhnlichen Darstellungsweise lang im Gedächtnis des Publikums bleiben wird. Und sollte.
Karsten Kastelan (Verband der deutschen Filmkritik e.V.) 2015